Beschreibung
Der Biografische Zeitbalken ist ein Instrument zur Rekonstruktion und Notation realer und belegbarer lebensgeschichtlicher Verläufe im Kontext Sozialer Arbeit.
Das Instrument wurde in der niederländischen Sozialpsychiatrie entwickelt, der deutschsprachigen Fachöffentlichkeit durch Peter Pantuček-Eisenbacher bekanntgemacht und im Rahmen einer transnationalen Hochschulkooperation TransSoDia weiterentwickelt.
Der Biografische Zeitbalken kann bei Kindern ab dem zehnten Lebensjahr und bei Erwachsenen aller Altersgruppen eingesetzt werden. Er wird vor allem in längerfristigen Beratungs- und Betreuungskontexten verwendet, z. B. in der ambulanten Sozialpsychiatrie, Suchthilfe und Bewährungshilfe.
Mit dem biografischen Zeitbalken kann der Lebenslauf kompakt und gleichzeitig umfassend visualisiert werden. Mit dieser visuellen Darstellung im Zeitbalken können Lebensphasen sichtbar gemacht werden und in Relation zum gesamten Lebensverlauf gesetzt werden. Der*Die Klient*in sieht die gesamte Lebensgeschichte auf einen Blick, so wird der Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart gespannt. Ziel ist es einen Überblick über bisherige lebensgeschichtliche Episoden und Stationen zu gewinnen, zeitliche Zusammenhänge zu identifizieren und (bewältigte) lebensgeschichtliche Herausforderungen sichtbar und thematisierbar zu machen.
Besonderheiten der Diagnostik mit dem Biografischen Zeitbalken
- Der Lebenslauf wird als mehrdimensionales Geschehen verstanden, die verschiedenen Dimensionen des individuellen Lebens stehen in Wechselwirkung zueinander und haben zugleich eine eigene innere Logik (z. B. Familienbiografie und Bildungsbiografie).
- Die Darstellung auf dem Zeitbalken erfordert die Erschließung von Daten, die nicht alle im Gedächtnis der Interviewten präsent sind. Das Verfahren verbindet somit Elemente einer aktengestützten Anamnese mit den Erzählungen der Person. Die Daten kommentieren die Erzählung, die Erzählung kommentiert die Daten. So dient die Erstellung des biografischen Zeitbalkens auch dazu, Bewältigungsstrategien aufzuspüren, in Erinnerung zu rufen und auf ihre Tauglichkeit für aktuelle Herausforderungen zu reflektieren.
- Den Erzählungen wird mit dem Zeitbalken eine graphische Darstellung hinzugefügt, die neue Perspektiven auf die Biografie ermöglicht. Die visuelle Darstellung der Lebensgeschichte spannt den Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und hilft dem*der Klienten*in sein*ihr Gewordensein nachzuvollziehen.
- In der gemeinsamen Analyse werden Thesen für das eigene Gewordensein herausgearbeitet und vor allem - Ressourcen und Bewältigungsstrategien aufgespürt: Auf welche Lebensbereiche hat sich ein Ereignis ausgewirkt, wie wurden vergangene kritische Lebensereignisse und belastende Phasen bewältigt? Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen den biografischen Dimensionen herstellen? Diese Fragen können Hinweise auf verborgene Ressourcen oder erfolgreiche Bewältigungsstrategien geben und sind somit für die weitere Interventionsplanung relevant.
Der Zeitbalken enthält oben eine Zeile mit den fortlaufenden historischen Jahren und darunter eine Zeile mit dem fortlaufenden biologischen Alter des*der Klient*in. Diese Informationen unterstützen die Übersichtlichkeit bzw. die zeitliche Einordnung der biografischen Ereignisse sowie die Bezüge zu historischen Phasen und Ereignissen.
Der biografische Zeitbalken beginnt mit der Geburt des*der Biograf*in. Frühere Ereignisse, die für ihn*sie von Bedeutung sind oder mit denen er*sie sein*ihr Gewordensein erklärt, sind im Zeitstrahl nicht sichtbar.
Dimension Familie: In dieser Zeile werden alle Phasen und Ereignisse erfasst, die mit der Herkunftsfamilie, der selbst gegründeten Familie und der Schwiegerfamilie verbunden sind. Zu typischen Ereignissen zählen die Geburt jüngerer Geschwister, Kinder, Trennung/Scheidung der Eltern. Zu Lebensphasen gehören insbesondere Lebensgemeinschaften und Ehen. Familiäre Todesfälle, Erkrankungen und Krisen von (nahen) Familienangehörigen bekommen einen Eintrag in dieser Dimension oder der Übersichtlichkeit halber unter „Sonstiges“ bzw. unter einer frei bezeichneten Dimension.
Dimension Wohnen: Hier wird dargelegt, wann der:die Klient:in mit wem, wo und wie gewohnt hat, wobei Haushaltsphasen registriert werden. Neben dem Wohnort und dem Wohnverhältnis – (Miet-)Wohnung, Haus/Eigenheim, Wohngemeinschaft – werden alle im Haushalt lebenden Personen aufgelistet. Ziehen Personen aus dem gemeinsamen Haushalt aus oder ziehen sie hier ein, schlägt sich dies in Form einer eigenen Wohnphase nieder. Es werden also alle Veränderungen bezüglich der Haushaltslogik vermerkt. Genaue Eintragungen sind u.a. deswegen wichtig, weil erst in der Wohndimension ältere Geschwister, die im gemeinsamen Haushalt aufgewachsen sind, sichtbar werden.
Dimension Bildung: Diese Dimension widmet sich sämtlichen Bildungsaktivitäten vom Kindergarten über Schulbildung, Berufsausbildung, Studium bis hin zu (beruflichen) Weiterbildungen.
Dimension Arbeit: Hier werden alle entlohnten Tätigkeiten und (auch innerbetriebliche) Arbeitsplatzwechsel notiert. Die Dimension konzentriert sich auf Erwerbsarbeit, um Hinweise auf den sozialversicherungsrechtlichen Status der Person zu erhalten. Schwarzarbeit wie auch ehrenamtliche Tätigkeiten werden unter „Sonstiges“ oder einer entsprechend bezeichneten frei gewählten Kategorie aufgeschrieben.
Dimension Gesundheit: Vorübergehende, langdauernde und chronische Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Funktionsfähigkeit stehen im Fokus dieser Dimension, seien es (schwere) Erkrankungen, chronische somatische Krankheiten, Unfälle oder psychische Erkrankungen/Störungen/Krisen etc.
Dimension Behandlung/Hilfe: Dieser Aspekt dient der Aufzeichnung aller erwähnenswerten sozialarbeiterischen, sozialpädagogischen, logopädischen, medizinischen, physio- oder ergotherapeutischen, psychotherapeutischen, pflegerischen oder ähnlichen Behandlungen und Hilfen. Das Vermerken längerer stationärer Aufenthalte ist auch in der Dimension „Wohnen“ möglich.
Dimension ‚Sonstiges‘ bzw. unbenannte Zeilen: Neben den genannten obligatorischen Dimensionen bietet der easyBiograph als digitale Version des Zeitbalkens die Aussicht, eigene relevante biografische Kategorien einzuführen. Der Biografische Zeitbalken wird so um gesellschaftliche Ereignisse ergänzt und/oder individuell auf den:die Klient:in zugeschnitten. Typischerweise werden die Dimensionen in der Praxis für folgende Lebensbereiche verwendet: Delinquenz; Freizeitaktivitäten/Vereine; Haustiere; Hausbau; schwere und/oder chronische (psychische) Erkrankungen / Krisen in der Familie; prägende Freund:innenschaften / Ereignisse (z.B. tödliche Unfälle) im Freund:innenkreis; prägende Reisen/Auslandsaufenthalte; Migration; ehrenamtliches Engagement; politisches Engagement / Zugehörigkeit zu Parteien.
Die Auseinandersetzung mit der lebensgeschichtlichen Vergangenheit von Klient:innen ist nicht in allen Kontexten und Settings der Sozialen Arbeit notwendig bzw. passend. Sie bedarf jedenfalls einer Begründung, insbesondere muss der Zweck sowohl Sozialarbeiter:in als auch Klient:in klar sein.
Der:Die Interviewpartner:in wird im Zuge der Planung des Biografischen Interviews gebeten, persönliche Dokumente und Unterlagen mitzubringen, die die Rekonstruktion des Lebenslaufs erleichtern, wie z.B. Schulzeugnisse, Meldezettel, Versicherungsdatenauszug, Krankenakten, Berichte professioneller Helfer:innen etc. Auch der:die Sozialarbeiter:in bereitet allfällige Akten sowie Dokumente vor und auf, die Aufschluss über die Lebensgeschichte geben. Es ist höchste Exaktheit bei den eingetragenen Daten gefragt, die bloße Erinnerung reicht dafür in aller Regel nicht aus.
Falls in einem Intake oder Assessment bereits lebensgeschichtliche Daten gesammelt wurden, ist es zweckmäßig, sie zur Vorbereitung des Gesprächs in den Zeitbalken einzutragen; im Gespräch mit dem:der Klient:in werden sie abgeglichen und ergänzt. Diese Variante verfügt über den Vorteil, dass gegenüber dem:der Klient:in sämtliche Daten, die in der Organisation bislang erhoben wurden, strukturiert offenlegt werden.
Der Biografische Zeitbalken lässt sich schließlich auch basierend auf einem narrativ-biografischen Interview erstellen. Dementsprechend erfährt die erlebte und erzählte Biografie Erweiterung um zeitliche Dimensionen und Fakten der gelebten Biografie und stellt eine Verbindung dazu her. Auch dieses Vorgehen kalkuliert ein, dass der Lebensverlauf zu vervollständigen sein wird.
Für das Ausfüllen des Biografischen Zeitbalkens ist mindestens eine Stunde Zeit einzuplanen. Ein (zweiter) Folgetermin schafft für den:die Klient:in die Gelegenheit, zwischen beiden Terminen weitere Recherchen und Nachforschungen anzustellen. Sehr bewegte und ereignisreiche Lebensverläufe erfordern potenziell mehrere Gespräche, um den Zeitbalken zu vervollständigen und den Erfahrungen, dem Erleben und den Bedeutungskonstruktionen des:der Klient:in angemessenen Raum zu bieten.
Je nachdem, wie sehr neben dem Lebenslauf auch die Biografie von Interesse ist, bieten sich zumindest zwei Stile der Gesprächsführung an, einerseits ein strukturiertes Interview entlang der Dimensionen, andererseits ein narratives Interview. Beide Formen der Gesprächsführung werden in den weiterführenden Dokumenten im Bereich Toolkits näher beschrieben.
Im mehrdimensionalen Zeitbalken werden lebensgeschichtliche Umbrüche gut sichtbar, insbesondere wenn Veränderungen in mehreren Dimensionen (fast) gleichzeitig stattfinden.
Obwohl die einzelnen Lebensabschnitte bereits bei der Erstellung des Zeitstrahls besprochen wurden, ist es sinnvoll, sie in Bezug zur gesamten realen Biografie zu setzen. Was kennzeichnet die Dimensionen im Einzelnen? Wie hängen sie jeweils mit anderen Lebensbereichen und Ereignissen zusammen?
Wie bei allen biografischen Verfahren ist von monokausalen Annahmen Abstand zu nehmen. Lebensgeschichtliche Prozesse sind in der Regel zu komplex für vereinfachte, alltagspsychologische Erklärungsversuche à la: Aus Erfahrung A folgt Problem B. Dennoch kann es sinnvoll sein, Ereignisse, die in zeitlicher Nähe zueinanderstehen, in einen möglichen Zusammenhang zu bringen. Entsprechende Thesen werden dem*der Biografieträger*in als solche angeboten und mit ihm*ihr erörtert.
Ebenso aufschlussreich können Lebensbereiche sein, die von Umbrüchen in anderen Lebensbereichen unberührt geblieben sind. Aber nicht nur eingetretene Ereignisse oder Lebensphasen sind relevant, auch das Fehlen biografischer Erfahrungen oder Leerstellen im Lebenslauf können bedeutsam sein, wie z. B. fehlende Partnerschaften, fehlende Berufsausbildungen, Phasen der Arbeitslosigkeit und Leerstellen unter ‚Behandlung/Hilfe‘ trotz gravierender gesundheitlicher Probleme.
In der Analyse werden Gesamtzusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Lebensbereichen betrachtet. In welchen Dimensionen gibt es Häufungen, in welchen Leerstellen? Der unterschiedliche Grad der Einträge kann auf Werthaltungen des*der Klient*in hinweisen, wie z.B. Familien-, Karriere-, Freizeitorientierung. In welchen Altersphasen häufen sich Ereignisse? Welche Einflüsse der Ereignisse in historischer Zeit auf den Lebensverlauf des*der Klient*in zeigen sich bzw. lassen sich vermuten?
Das Augenmerk richtet sich nicht zuletzt auf Statuspassagen, also (belastende) Übergänge von einer Lebensphase in eine andere, auf Umbrüche, kritische Lebensereignisse und herausfordernde Lebensphasen. Im Gespräch mit den Klient*innen wird erkundet, wie diese mit lebensgeschichtlichen Herausforderungen umgegangen sind, wie sie diese bewältigt haben und welche Bewältigungsversuche sie rückblickend als erfolgreich oder erfolglos einschätzen. Von besonderem Interesse sind dabei solche Lebenssituationen, die Ähnlichkeiten mit der aktuellen Problemsituation aufweisen. So kann gemeinsam überlegt werden, welche Denkmuster und Handlungsstrategien auch in der aktuellen Problemsituation hilfreich sein können und welche Lösungsversuche hinkünftig vermieden werden sollten.